JOCHEN BIGANZOLI   REGISSEUR

LA BOHÈME von Giacomo Puccini, LANDESTHEATER EISENACH

Musikalische Leitung: Tetsuro Ban

Ausstattung: Michael S. Kraus

Video: Thomas Lippick

Dramaturgie: Stefan Bausch


THÜRINGER ALLGEMEINE, 5. MÄRZ 2007

Zum Heulen

(…) Die Zuschauer bekamen eine ideenreiche, leichtfüßige Inszenierung von Jochen Biganzoli zu sehen, die "La Bohème" weder umwertet noch neu erfindet, die aber für reizvolle Akzentverschiebungen steht - und für feinen bis frechen Humor. Selten darf die todgeweihte Mimi so lebendig sein, so listig und lebensbejahend wie in dieser Inszenierung; Die Geschichte ihrer Liebe zu Rodolfo, die das Libretto nur andeutet, erzählt Thomas Lippick mit den Mitteln des Films. Die Videosequenzen des Paares, das überglücklich und übermütig durch die Stadt stromert, gehören zu den anrührendsten, poetischsten Momenten. Im Vordergrund steht eine Ensembleleistung der Sänger-Darsteller, die den konsequenten Verzicht auf einen Opernchor - ihn hat Eisenach schon vor Jahren verloren - mehr als rechtfertigt. Kein Mensch vermisst einen Chor, wenn die Herren Schaunard, Colline und Marcello im Momus stimmstark das Leben feiern. Biganzoli lässt die Künstler am Ende zu Geld kommen, statt des Kanonenofens leisten sie sich einen Bildschirm, auf dem virtuelles Kaminfeuer flackert, und eine Designercouch. Musette bräuchte ihre Ohrringe nicht zu opfern, um Medikamente für Mimi zu kaufen; aber mit Geld ist die Todkranke ohnehin nicht mehr zu retten. Ihr Sterben ist Schicksal. Minutenlang jubelte das Premierenpublikum. (...)

THÜRINGER LANDESZEITUNG, 5. MÄRZ 2007

Spannung und Empfindsamkeit

(...) Traditionalisten werden den Kopf schütteln, Modernisten begeistert applaudieren - in einem dürften sie sich einig sein: an mitreißender Spannung wie an sentimentaler Empfindsamkeit war diese Inszenierung von Puccinis "La Bohème" am Landestheater Eisenach kaum zu überbieten. Jochen Biganzoli jedenfalls ging mit seiner Bühnenfassung der populären Oper weit über die Adaption ins Heute hinaus, indem er durch Film- und Videobilder (Thomas Lippick) Hintergrundgeschehen und -gedanken sichtbar machte. Junge Menschen stellte er auf die Bühne, denen wir im Alltag begegnen könnten. Die in ungebrochener Lebenslust auch über die Stränge bürgerlicher Wohlanständigkeit schlagen wie bei den Flegeleien im Café oder der rüpelhaften Abfertigung des Wirtes. Die ihren Liebesgefühlen spontan freien Lauf lassen und so den Eindruck vielfach überschäumender, nicht zu bremsender Lebensaktivität vermitteln - trotz offensichtlich werdenden sozialen Randdaseins. Die aber auch der Wärme, des Mitgefühls fähig sind, wenn sie eingefordert wird, und die sie alle, jeder auf seine Art, der sterbenskranken Mimi, dem verzweifelnden Rodolfo entgegen bringen. Mögen all diesen eindringlichen Bildern messerscharfe Situationsanalysen voraus gegangen sein, ihre Umsetzung übersprang die Hürden abstrahierender Rationalität, zeigte Menschen in ihrer Eigenwilligkeit, ihren Träumen, ihrem Lebensdrang und ihrer Ausweglosigkeit.Freilich erinnert man sich der Sentenz, der Wirkung der Bohème könne sich niemand entziehen, sie potenziere sich aber ungemein, wenn die Regie - konservativ oder modernistisch - aus der Lebensnähe des Verismus schöpft. Das genau tat Biganzoli und hat damit diesen nachhaltigen Eindruck erzielt. Unübersehbar, unüberhörbar die engen Beziehungen zur Partitur, die in Tetsuro Ban einen temperamentvoll dirigierenden Gestalter mit feinen Antennen für die harschen Gegensätze dieser Musik fand. (...)